Sylvestergeschichten eines Sechsecks

"Wenn man einen Punkt geradlinig ein Stückchen bewegt, dann entsteht eine Linie mit zwei Endpunkten, eine Strecke. Verschiebt man nun diese Strecke in einer zu ihr senrechten Richtung um eine gleichgroße Strecke, dann bildet sich ein Quadrat, das vier Ecken besitzt und von vier Seiten begrenzt ist."


a) Wenn ein Punkt A geradlinig um das Stück s nach B bewegt wird, entsteht eine Strecke AB.
b) Wenn eine Strecke AB senkrecht zu ihrer Richtung um das gleiche Stück s verschoben wird, entsteht das Quadrat ABCD. Es wird von vier Seiten begrenzt: Die Strecke AB an der ursprünglichen Stelle, dieselbe Strecke in der neuen Lage CD, die beiden Strecken, die die Punkte A und B bei der Bewegung zurückgelegt haben.
c) Wird ein Quadrat ABCD senkrecht zu einer Fläche verschoben, so entsteht ein Würfel. Er wird begrenzt durch sechs Quadrate: Das Quadrat in der Ausgangslage ABCD, das Quadrat in der Endlage EFGH, die vier Quadrate ABFE, BCGF, CDHG, DAEH; die bei der Verschiebung der vier Seiten AB, BC, CD und DA entstehen.
d) Verschiebt man den Würfel EFGH ABCD senkrecht zu seinem Raum (wir können das nicht sehen, sondern nur denken) um das gleiche Stück s in die Lage NOPQ IKLM (im Bild kleiner gezeichnet), dann entsteht ein Überwürfel oder Achtzell. Das Achtzell wird von acht Würfeln begrenzt: Der ursprüngliche Würfel in der Ausgangslage und in der verschobenen Lage. Durch das Verschieben der sechs Seitenquadrate haben sich noch weitere sechs Würfel gebildet, die in der Figur nicht nach richtigen Würfeln aussehen.
Eine simple Vorstellung, für alle von uns, aber nicht für die Bewohner des Linienlandes, die von der zweiten Dimension noch nie etwas gehört haben und den Begriff "senkrecht" gewiß nicht in ihrem Vokabular finden können.
Als einfache Punkte und Striche auf einer endlosen Linie angeordnet verstehen die Bewohner des Linienlandes es hervorragend, mit den Begriffen "vorne" und "hinten" umzugehen, aber "rechts" und "links" werden ihnen auf ewig verschlossen bleiben.

Und in der gefälligen Überlegenheit eines Wesens, dem es nicht so geht, lehnt sich an einem Silvesterabend ein Sechseck als braver Bewohner des nicht minder sonderbaren Flächenlandes zurück und erklärt seinem Sohn, warum es den Linienlandbewohnern so schwer fallen würde, sich die zweite Dimension vorzustellen.

Und obwohl das in den Zeiten seines Großvaters, des Quadrates, ein Todesurteil im streng hierarchisch und ziemlich diktatorisch regierten Flächenland mit sich gezogen hätte, wagt er es, sogar noch weiterzugehen:
"Wir setzen unsere Überlegung fort und bewegen nun in Gedanken also ein Quadrat in einer dritten Richtung, die wir (als Flächenlandbewohner) nicht wahrnehmen können. Das Quadrat wird senkrecht zu unserem Raum um ein gleich großes Stück verschoben. Es entsteht ein dreidimensionaler Körper, ein Überquadrat oder ein Würfel, das acht Eckpunkte und zwölf Kanten besitzt."

Faszinierend, hm? Diese tiefschürfenden Gedankengänge und viele kleinere Erzählungen über die Entdeckung der Dreidimensionalität im Reich des Flächenlandes präsentiert Dionys Burger in dem sonderbaren Buch "Silvestergeschichten eines Sechsecks" und folgt damit einer schon recht alten Tradition, denn das Flächenland, im Original "Flatland" genannt, trat bereits 1880 mit Hilfe des Autors Edwin A. Abbott in unsere dreidimensionale Welt.
Gassen- und Rassenhunde
Wie man auch einen Gassenhund dreht und wendet, man kann keinen Rassehund aus ihm machen.
Und während wir noch die Gedankengänge des Quadrates und des Sechsecks, das am Silvesterabend von einer Kugel Besuch bekommt, mit dem Verständnis räumlicher Wesen nickend belächeln und wir uns zurücklehnen, führt Burger den Leser weiter auf die verschlungenen Pfade der gekrümmten Räume und der vierten Dimension, die plötzlich die gleichen Knoten in unsere Vorstellungskraft zu knüpften drohen, die die Linienlandbewohner beim Gedanken an Quadrate haben mögen.

Oder wie klingt das: "Was entsteht, wenn man nun den Würfel in einer vierten Richtung bewegt, senkrecht zu den drei anderen Dimensionen? Das ergibt einen vierdimensionalen Körper, den wir nun einen Überwürfel nennen werden."
Und der hat es in sich: sechzehn Eckpunkte, zweiunddreißig Kanten, vierundzwanzig Flächen und begrenzt wird er durch 8 Würfel (so wie ein einfacher Würfel von sechs Quadraten begrenzt ist).
Gassen- und Rassenhunde
Wie ein Gassenhund durch Herausheben aus Flächenland und anschließendes Drehen in einen Rassehund verwandelt werden kann.
Dionys Burger geht aber noch weiter, denn nach der vierten Dimension führt er den Leser auf die gleiche Weise über das Flächenland in die Welt der gekrümmten Räume und schafft es dabei, schwierige Prinzipien gut nachvollziehbar darzustellen.

"Silvestergespräche eines Sechsecks" ist kein simpler Roman, aber auch kein unverständliches Machwerk höherer Mathematik und dabei auch noch recht unterhaltsam - und zudem: in keinem anderen Buch bekommt man die Gelegenheit, die überraschende Wendung in dem scheinbar uns gut bekannten Märchen "Rotschuhchen", das dem bösen Wolf im Wald begegnet, zu lesen - zur zweidimensionalen Entspannung.

Dionys Burger:
Silvestergeschichten eines Sechsecks
Aulis Verlag Deubner & Co KG, Köln 1986
ISBN 3-7614-0085-3

Britta van den Boom