Anatomie


30 Chromtische, in einem großen halbdunkelem Raum. Es riecht nach Desinfektionsmitteln und Formalin. Bald werden hier Woche für Woche 300 Studenten der Medizin Menschen präparieren. Sie müssen die Anatomie lernen. Alles in Einzelteile zerlegen, untersuchen, den Aufbau des Menschen verstehen.

So, oder so ähnlich sehen die Präparationsräume der medizinischen Fakultäten überall aus, auch in Freiburg. Hier spielt der von Michael Jungfleisch produzierte Film 'Tisch No. 6'. Der einzige Unterschied zu der oben beschriebenen Atmosphäre besteht darin, daß sobald Studenten diese Räumlichkeiten nutzen, ein fast grellbeißendes Neonlicht sie vor die realen Tatsachen stellt.

Die Augen können nicht mehr verschlossen bleiben. Augen auf, Handschuhe an -... . Es führt kein Weg daran vorbei.

Die gesellschaftliche Akzeptanz für eine derartige studentische Ausbildung ist groß. Keiner möchte einem jungen Arzt ausgeliefert sein, der bis dato nur über die Schulter seinen Profs geschaut hat. Praktische Erfahrung kann schließlich nur dadurch gelernt werden, wenn man selbst Hand anlegt. Es gibt keine Alternative, keine Computersimulation oder Plastiken, an denen dieses Wissen erworben werden kann.

Sicherlich graust es vielen Erstsemestern vor dem ersten Anblick dieser bläulich schimmernder Leichen. Die Körperspender haben sich freiwillig, vor ihren Tod in den Dienst der Wissenschaft gestellt. Anders als bei Organspendern müssen sie nicht "topfit" sein. Es reicht keine ansteckenden Krankheiten zu haben. Doch wer möchte sich nach seinem Tod bis ins kleinste zerlegen lassen?Nach dem Präparationskurs fein säuberlich zusammengescharrt, verbrannt und begraben werden?

In unserer christlich geprägten Kultur ist die Unversehrtheit des Körpers, ob nun rational begründet oder nicht, immer noch ein wesentlicher Bestandteil. Dieser Drang, kryptoreligiöse Verhaltensweisen aufrecht zu erhalten führt wohl dazu, daß am Ende eines solchen Präparationskurses bei den Studenten ein sehr großer Respekt für die Leute entwickelt wird, die sich post humen in den Dienst der Wissenschaft gestellt haben. In vielen Universitäten ist es üblich, daß die Studenten das von der Fakultät für Medizin bezahlte Begräbnis organisieren. Sie können so ihren Respekt zum Ausdruck bringen.

Der Tod ist eine Erfahrung, die Studenten der Medizin frühst möglich machen müssen. Viele Leichen werden ihr zukünftiges Berufsleben begleiten. Doch obwohl dieser Kurs für viele die erste Konfrontation mit dem Tod ist, gibt es einen wesentliche Unterschied. Die Leiche ist nur körperlich. Sie ist kein Mensch. Nach dem ersten Schnitt mit dem Skalpell wird sie zum Forschungsobjekt. Es beginnt ein Gefühl, das dem gleicht, wenn man über die Unendlichkeit des Universums nachdenkt. Diese Faszination über die Komplexität und Vollkommenheit eines evolutiv entstandenen Geschöpfes ist meist größer als die Angst vor dem Tod. Der Geist, oder das, was den Menschen einmal ausmachte, ist vor Monaten gestorben, oder lebt zumindest nicht mehr in diesem Körper. Eine ethische Fragestellung ergibt sich für die wenigsten Studenten, selbst wenn sie gläubig sind.

Doch was ist mit den Studenten, die die wissenschaftliche Neugier nicht packt? Die, die nur 'durchkommen' wollen? Diese Pflichtveranstaltung als einen Schritt zum Physikum betrachten, ohne Wissensdrang die nötigen Aufgaben erfüllen, um am Ende des Semesters den Übungsschein zu erhalten? Vielleicht kommt bei diesen Studenten eine Art 'Machtgedanke' hoch. Später, im Berufsleben, sind es lebende Menschen, zu denen sie sagen werden: "Dies ist eine kleine Spritze, Sie zählen jetzt langsam von Fünf rückwärts, wenn Sie wieder aufwachen ist alles vorbei....".

Als Patient, gibt man sich wissentlich willenlos in die Hände des operierenden Arztes. Es liegt alles in der ärztlichen MACHT. Mit den Toten im Präparationssaal, genauso wie mit den späteren Patienten, der Mediziner hat die Macht über das Leben und den Tod. Nur die wenigsten Patienten bestehen auf eine spinale Betäubung (d.h. eine Betäubung, bei der lediglich der Körper durch eine Betäubung ins Rückenmark gefühllos gemacht wird, der Patient bleibt in einem solchen Fall vollkommen bei Bewußtsein) - falls diese möglich ist -, doch die meisten Menschen sträuben sich davor, als Leiche in einem studentischen 'Präpsaal' zu enden.....

Wo liegt der Unterschied? Hier muß etwas nicht rationales versteckt sein. Etwas, das sowohl die Studenten mit Abscheu an diesen Kurs denken läßt, etwas, das die meisten Menschen die Frage, ob sie sich nach ihrem Tod präparieren ließen verneinen läßt. Für viele Studenten ist die Präparation des Auges -vielleicht gerade aus diesen, irrationalen Gründen- der größte Horror, eine Leiche, die einen anstarrt, jeden Schnitt beobachtet,....fragen stellt... Die Urangst des Menschen vor dem Tod, scheint selbst in der Wissenschaft fortzubestehen.